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»Ich war so glücklich über dein Verlangen nach Figur und Groteske!«

Horst Janssen und der Manierismus

Exposé/Grundüberlegungen

Vortrag anlässlich einer Vorstellung im Horst-Janssen-Museum

Exposé

1Horst Janssens Zeichnungen stellen Wirklichkeit dar und übersteigern sie: Die Dinge erscheinen verzerrt, verfremdet, überzeichnet. Und in dieser Übersteigerung wird eine andere, eine Janssen’sche Wirklichkeit sicht- und erfahrbar. In ihrer Virtuosität und der damit einhergehenden Gleichbehandlung aller Themen in der oft detailreichen, eklektischen Darstellung, die stärker an ihren Möglichkeiten als am jeweiligen Motiv interessiert zu sein scheint, erinnern Janssens Bilder an die Kunst des Manierismus2. Auch greift Janssen wiederholt Werke der Manieristen auf, beispielsweise von Goltzius oder Pontormo, kopiert diese und überführt sie in zeitgenössische Werke.3 In ihnen findet er den »physiognomische[n] Duktus seiner vermenschlichten Bäume, Falten, Wolken oder die Gestrüppnatur seiner ausgezehrten, kapriziös perfide gewundender Leiber […] die Überdrehung und Überlängung körperlicher Proportionen oder das Spiel mit den Identiäten«4 gespiegelt. Sie regen Janssens Lust am Exzess, an der Verformung und hybriden Übersteigerung bei gleichzeitiger Rückbindung an die Referenzen ›älterer Meister‹ an und ermöglichen ihm einen spielerischen Dialog5.

Gutav René Hocke geht in seinem Buch Die Welt als Labyrinth (1957) von einem geschichtsübergreifenden Manierismuskonzept aus, dessen Formprinzipien wie die Figura Serpentinata sich zu unterschiedlichen Zeiten in allen Medien finden lassen. Im Sinne einer in der Darstellung bewältigten Schwierigkeit6 geht es den Künstlern7 darum zu zeigen, was sie können: Neben die Empirie der Wahrnehmung und Vermessung tritt der Wille zur Ästhetisierung der Bildthemen.8 »Manierismus ist ein Verfahren mit der Funktion, demonstrative Artistik vorzuführen und eine Rezipientenreaktion auf eben diese Artistik herauszufordern«9 und steigert sich so bis zur Kaprizösität und in eine »übertriebene Virtuosität«10. Im Kunstwerk vollzieht sich eine Synthese von Form und Bedeutung; die Faszination des sich bewegenden und bewegten Körpers oder Sujets zeigt sich in Bewegungen ohne große Kraftanstrengung, die weniger auf ein Ziel gerichtet sind als vielmehr »Bewegungen, die nichts mehr zu beschreiben scheinen«11. Eine Deformation der Figuren zugunsten eines gesteigerten Ausdruck treibt diese in der Verzerrung ins Phantastische und Fremde, lässt Ungeheuerlichkeiten in den Bildern durchscheinen. Die so ausgelösten Affekte der meraviglia und curiositas erreichen, dass auch ›hässliche‹ Objekte eine Bewunderung der künstlerischen Leistung hervorrufen:12 Das Hässliche, Abstoßende wird so gezeigt, dass es faszinierend wird. Auch Janssens Zeichnungen »sind [oft] der großartige Versuch, das, was uns zunächst eklig, grausig und grausam erscheint, zu ertragen, auszuhalten, aufzuheben, indem es verwandelt wird durch die Kunst und also schön durch die Zeichnung.«13
Wie die Künstler des Manierismus setzt auch Janssen in seinem zeichnerischen Werk auf die bewusste Brechung klassischer Proportionen, auf expressive Überdehnung, ornamentale Komplexität und ein Changieren zwischen Sinnlichkeit und Abgründigem. So entfaltet sich in der Spannung zwischen akribischer Detailversessenheit, Überformung und Überfülle eine »existenziell bedrängende[] Bilderwelt«14, die Janssen in großen Schwüngen wie in prätentiösen
Strichen fabuliert und derart ein überbordendes Panorama des Bildlichen schafft, in dessen zeichnerischem Überschuss sich Zeichner wie Betrachtende verlieren können. So drängt sich in Janssens Bilderfindungen eine durch ein Übermaß an visuellen Empfindungen und Imagination entstehende Formenvielfalt, in der die Lust des Zeichners zur Schaulust der
Betrachtenden wird.

Verfremdung kann sich in seinen Zeichnungen und Grafiken subtil vollziehen, als eine Verdopplung der Wirklichkeit, in einer hyperrealistischen Darstellung. Oder sie findet sich in der Übertreibung, kippt ins Groteske, verzerrt und fragmentiert und stellt so im Bild dessen Differenz zur vermeintlichen Realität aus. Derartige ästhetische Strategien finden sich vermehrt in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs sowie in persönlichen, psychologischen Krisenzeiten – wenn vertraut scheinende Ordnungen instabil werden und unter der Oberfläche des Gewohnten und Idealen das Absurde und Paradoxe hervorzutreten beginnt als Vorbote neuer, noch ungeformter Gefüge. Ambiguität wird nicht harmonisiert, sondern ausgestellt.
Janssens Bilder sind Gewebe, in denen Form und Bedeutung sich ineinanderblenden. Er nennt sie »›gestohlene[]‹ Welten«15, Echo und Umformung dessen, was er sieht: Landschaften, Gesichter, Kunstwerke. Botanik gerinnt ihm zur Arabeske – jeder Baum ein Laokoon, hinter jedem Busch, in jeder Blüte eröffnet sich eine Welt der Monster und Fabelwesen, ein Panoptikum des Sexus.16

  1. Janssen, der foliant, Hamburg 1992, S. 91. ↩︎
  2. Der geläufigerweise für bestimmte künstlerische Ausdrucksformen vor allem im 16. und frühen 17. Jahrhundert verwendete Begriff fasst unterschiedliche künstlerische Positionen zusammen. Es gilt, den »Ausdruck künstlerischer Qualitäten über den Ausdruck des Themas zu stellen.« (Shearman, Manierismus, Weinheim-Beltz 1994, S. 189) – Der Begriff maniera (ital.) im Sinne von »Stilisierung« oder »der elegante Stil« verwendet. Konzept und Inventio werden durch die individuell gebildete, handwerklich Tätigkeit der künstlerischen Hand(schrift) ausgeführt. (Vgl. Thimann, Michael, »Ein Denkraum der Unbesonnenheit? Zur jüngeren Debatte um den Manierismus in der Kunstgeschichte«, in: Philipp/Tátrai/Westheider (Hg.). Sturz in die Welt, München 2008, S. 30.) ↩︎
  3. Vgl. Janssen, Die Kopie, Hamburg 1977. ↩︎
  4. Christa Lichtenstern, »Horst Janssens Kunst der Metamorphose und die ›großen Alten‹«, in: Janssen. Metamorphosen, Oldenburg 2000, S. 24. ↩︎
  5. Vgl. Janssen, Die Kopie, Hamburg 1977, S. 8. ↩︎
  6. Vgl. Shearman, Manierismus, Weinheim-Beltz 1994, S. 20. ↩︎
  7. Ich verwende die männliche Form, da es sich bei den historischen Künstlern des Manierismus nach meinen derzeitigen Kenntnisstand um Männer handelte. ↩︎
  8. Vgl. Lein/Wundram, Kunst-Epochen. Band 7: Manierismus, 2020, S. 25. ↩︎
  9. Rüdiger Zymner, »Manierismus als Artistik«, in: Braungart (Hg.), Manier und Manierismus, Tübingen 2000, S. 11 (Herv. i. O.). ↩︎
  10. Shearman, Manierismus, Weinheim-Beltz 1994, S. 37. ↩︎
  11. Shearman, Manierismus, Weinheim-Beltz 1994, S. 99. ↩︎
  12. Vgl. Thimann, in: Philipp/Tátrai/Westheider (Hg.). Sturz in die Welt, München 2008, S. 32. ↩︎
  13. Wieland Schmied, in: Janssen, Horst Janssen. Hannover 1965, S. 15 f. ↩︎
  14. Axel Hinrich Murken, »Zu Horst Janssen«, in: Janssen, der foliant. Hamburg 1992, S. 3. ↩︎
  15. Janssen, der foliant, Hamburg 1992, S. 23 f. ↩︎
  16. Tatsächlich stellt Christia Lichtenstern eine enge Verbindung von Janssens erotisierten Zeichnungen und manieristischen Referenzen her, wenn sie darauf hinweist, dass Janssen die »Venus« von Goltzius zitiert, um aufzuzeigen, wie sich erotische Phantasien heraufbeschwören lassen. (Christa Lichtenstern, »Horst Janssens Kunst der Metamorphose und die ›großen Alten‹«, in: Janssen. Metamorphosen, Oldenburg 2000, S. 23. ↩︎

Vortrag anlässlich einer Stipendienbewerbung im Horst-Janssen-Museum in Oldenburg

Ein Ausruf Janssens war meinem Bewerbungsexposé vorangestellt: „Ich war so glücklich über dein Verlangen nach Figur und Groteske!“1. Janssen spricht hier zwei Aspekte an, die Figur und die oder das Groteske, die ich aufgreifen möchte, um mich im Folgenden dem Manierismus und Horst Janssen zu nähern.

Doch lassen Sie mich zunächst kurz darauf eingehen, welche Schwierigkeiten mir in der Vorbereitung dieses Vortrags begegnet sind.
[El Greco – Janssen] Die formalen Ähnlichkeiten zwischen Werken des Manierismus und Horst Janssens scheinen offensichtlich: In ihrer Virtuosität und der damit einhergehenden Gleichbehandlung aller Themen, in einer oft detailreichen, eklektischen Darstellung, die stärker an ihren Möglichkeiten als am jeweiligen Motiv interessiert zu sein scheint, scheinen sie sich zu gleichen. (Exposé)
[Goltzius – KI – Janssen] Frage ich eine generative KI, so stellt auch sie problemlos eine Verbindung zwischen beiden Positionen her. Zum einen, wenn ich sie auffordere, Manierismus und Janssen zu kombinieren, wie hier zu sehen. (Wie gelungen das ist, kann an anderer Stelle diskutiert werden.) Zum anderen reproduziert die KI das im Internet auffindbare kulturelle Wissen, indem sie konstatiert, Manierismus wie Janssen zeigten eine starke Betonung der zeichnerischen Kunstfertigkeit und legten mehr Wert auf Eleganz und technische Virtuosität als auf naturalistische Wiedergabe. Gedehnte Proportionen, komplizierte Posen und bewusst durchgestaltete Figuren würden sich, wie Verzerrung, Überzeichnung und groteske Elemente, bei beiden finden. Auch verfolgten beide eine ähnliche Absicht von bewusster Formgestaltung und Selbstdarstellung. Nicht zuletzt würde jeweils mit Traditionsbezug und ironischen Reminiszenzen gespielt, daher ließen sich sowohl das Wissen um die Regeln des Kanons wie auch deren bewusster Bruch als verbindendes Prinzip auffassen.
Gemini folgert sogar ungefragt, man könnte Janssen als einen „Manieristen der Moderne“ bezeichnen, dessen übersteigerte Subjektivität, technische Perfektion und innere Unruhe eine geistige Brücke zum historischen Manierismus ­­schlagen würden.

[Possenti – Janssen] Hinter all dem steht die Behauptung, die Ähnlichkeiten seien evident.
Anders ausgedrückt: „Sieht man doch.“
Aber wie lassen sich die behaupteten Ähnlichkeiten belegen? Wo handelt es sich um punktuelle Koinzidenzen und welche Aspekte lassen sich systematisch erfassen?

Problematische Begrifflichkeiten

Problematisch ist allein schon der Gebrauch des Begriffs „Manierismus“, der eine wechselhafte Geschichte hinter sich hat. Verweist er einerseits auf das Handgemachte, ‚zu einer Handschrift gehörende‘2 und den ‚guten Stil‘, so wurde er andererseits genutzt, um auf einseitige, übersteigerte Nachahmungen hinzuweisen.3
[Bronzino – Arcimboldo] Denn eine manieristische Produktionsästhetik kann dazu führen, dass die Originalität der Darstellung durch ständige Wiederholung zunächst zu einer Überfülle im Bild und damit schließlich zur Masche und Manieriertheit gerinnt.4

Lassen wir entstehungsgeschichtliche Zuschreibungen außer acht und gehen von einem wertneutralen Begriff aus, bleibt immer noch die Frage, von welchem Manierismus wir sprechen. Ernst Robert Curtius und Gustav René Hocke5 haben in ihren Publikationen den Manierismus nicht nur als Epochenkonstrukt gefasst, sondern ihn auch zu einem epochenübergreifenden Prinzip erklärt. Damit lässt sich der Begriff für beides verwenden, und entsprechend schreibt Horst Bredekamp: „[Z]war sei es unumgänglich, den kunstgeschichtlichen Epochenbegriff beizubehalten, aber ebenso sinnvoll sei es, die epochenübergreifende Antiklassik unter diesem Terminus zu fassen, weil beide Bedeutungen, die Epoche und das Prinzip, historisch nachzuweisen seien“6.
[Fuchs – Giger] Wird aber die zeitliche Begrenzung aufgehoben, so wird der Manierismus zu einem Phänomen, dem zwar gewisse charakteristische Besonderheiten zugeschrieben werden können, diese lassen sich aber kaum noch zu so etwas wie einer Stilbeschreibung zusammengeführen. Mit der Abkehr vom gängigen Kanon, damals wie heute, wird es für die Künstler notwendig, einen individuellen, erkennbaren Stil auszubilden und diesen Ausdruck über alles zu stellen. Sie heben die Besonderheiten der künstlerischer Ausführung hervor und rücken ihre Virtuosität und deren Manifestation im einzelnen Kunstwerk in den Fokus. Derart werden sowohl Formen als auch Farben emotionalisiert.
Damit lassen sich Merkmale des Manierismus in allen Ausdrucksformen des Antiklassischen finden, in Groteske, Phantastik und Surrealismus ebenso wie in Komik, Karikatur und dem Absurden: Bei dieser Betrachtung können sie alle zu Ausdrucksformen des Manierismus werden.7

[Tübke] Deutlich wird das, wenn ein Vertreter der Leipziger Schule wie Werner Tübke, ein Maler des sozialistischen Realismus, oder vielleicht besser: magischen Realismus, als Manierist attribuiert wird. Bei Tübke treffen altmeisterliche Malweise und manieristische Form- und Farbgebung aufeinander. Frank Zöllner führt in einem Interview aus: „Der Maler identifizierte sich mit den Florentiner Manieristen. […] Für Tübke [] war der Manierismus sein persönlicher Idealstil. Er war [] der ‚Stil totaler Freiheit‘. Er implizierte noch genug des Renaissance-Ideals, das der offiziellen Staats-Doktrin entsprach, schuf aber zugleich so viele Freiräume, dass man sich als Künstler gut darin einrichten konnte.“8
[Tübke – Janssen] Hier im Haus soll im nächsten Jahr eine Ausstellung stattfinden, die Zeichnungen von Tübke und Janssen zusammenbringt („irgendwann irgendwo nowhere hier oder da – Janssen trifft Tübke“). Im Internet hab ich nur wenige Informationen finden können. Dort werden vor allem Gemeinsamkeiten der Zeichner genannt: vielfältige Rollen- und Selbstporträts, das jeweilige Bekenntnis zur kunstgeschichtlichen Bildtradition, die Verwendung altmeisterlicher Bildsprache für Aussagen über die eigene Zeit, und eine Dominanz von Gewalt, Terror und Tod in den Bildfindungen.9 Ich bin natürlich neugierig, inwiefern sich in der Ausstellung möglicherweise auch Aspekte des Manierismus in den Werken von Tübke und Janssen finden lassen können. Falls Sie mir im Anschluss an meinen Vortrag etwas dazu sagen mögen, würde mich das freuen.

[leer] Allein die Behauptung also, ich wolle die Arbeiten Horst Janssens mit dem Manierismus in Verbindung bringen, erweist sich bei genauem Hinsehen als eine Aufgabe, die weiterer Definitionen und Eingrenzungen des Untersuchungsgegenstandes bedarf.
Heute möchte ich den Blick zunächst auf den ‚historischen Manierismus‘ in den Jahren zwischen 1520 und 1620 richten und versuchen, ihn über figura serpentinata und Groteske in ein Spannungsfeld mit Janssens Werken zu stellen.

Figura serpentinata

Die figura serpentinata ist eine „schlangenförmige“ oder „flammenförmige“, dynamisierten Figurendarstellung mit gewundenen, gedrehten und möglicherweise überlängten Körpern und Gliedmaßen.
[Giambologna] Diese Verformung von Körpern zugunsten des gesteigerten Ausdrucks greift auf Formen zurück, die aus der Natur stammen, aber nicht mehr zwingend an diese gebunden sind.10 Oft geht sie einher mit einem übertriebenen Kontrapost und bringt so eine Vielansichtigkeit ins Bild.11 Das bedeutet für die Skulptur, wie hier zu ahnen, dass wir um sie herumgehen müssen, um die Formen voll erfassen zu können. Eine derartige Vielansichtigkeit ist in der Malerei impliziert, dort ist unsere Vorstellungskraft stärker gefordert.

[Parmiginino] Parmigianinos „Madonna mit dem langen Hals“ kann als Verkörperung des Ideals der figura serpentinata gelten.12 Die Proportionen der Muttergottes sind überlängt, ihr Körper hat keine klare anatomische Gliederung, alles ist im „schönen Schwung“13. Die Künstlichkeit der Darstellung spiegelt sich in den gezierten Gesten der Madonna und des Kindes. Die Bewegung im Bild ist eher aufstrebend als auf ein Ziel gerichtet, anstelle eines Krafteinsatzes tritt eine „choreographische Inszenierung“14 der Bildelemente: Jeder Körper befindet sich im Fluss – darin ähneln sich alle Körper. Die Bewegungen fördern die Narrativierung der Bildinhalte nicht15, die Körper lösen sich in einem Affektbild auf. Zum Affektbild als Stillstand der Narration schreibe ich in meiner Dissertation: „Der zu sehende Raum generiert nicht länger einen dreidimensionalen Handlungsraum, sondern wird ‚Möglichkeitsraum‘, der, selbst ohne definierte Eigenschaften, Qualitäten und Potenziale freisetzt und/oder sich in diese auflöst. […] Es findet ein Wechsel statt, weg von der Darstellung einer Handlung hin zu einer Beschreibung [. D]ie Betrachter erfahren den ‚Ausdruckswert des Bildes‘ jenseits einer Erzählung […].“16
[Juste de Juste] John Shearman geht sogar so weit, von „Bewegungen, die nichts mehr zu beschreiben scheinen“17 zu sprechen.
Der überzogene Einsatz der figura serpentinata birgt das Risiko der Übertreibung und des Eklektizismus. Dann wird Bewegung zur Bewegung um ihrer selbst willen18, ohne gerichtete Dynamik und ohne transitorische Momente, einzig in sich selbst verflochten.
[Goltzius] Hier zeigt sich eine Lust an gestalterischen Willkürakten, die Körperdarstellungen nutzt, um die Darstellungslust des Künstlers zu befriedigen und dessen Können zu zeigen. Thomas Röske sieht einen Gestaltungswillen bis zur Selbstbefriedigung, wenn er konstatiert: „[…] demnach bildet das Pendant zu einer sorgsam gestalteten gewaltsamen Verzeichnung der Figur im Bild eine erotisch besetzte Hingabe an die gestaltenden Linien.“19

[Phyllis] Diese Formulierung führt uns direkt zu Janssen, bei dem sorgsame Verzeichnung und erotisch-erotisierende Hingabe oft Hand in Hand gehen. Auch seine Figuren zeigen gedehnte Proportionen und komplizierte, verdrehte Posen, sie sind in ihrer Formgestaltung bewusst überzeichnet. Die Verschränkung von Anmut und Verzerrung, eine Doppeldeutigkeit oder vielleicht besser: Mehrdeutigkeit findet sich in seinen Bildern, auf verschiedene Weisen interpretierbare Formen und Zusammenhänge.
[Blume] Serpentinata-Figuren zeigen sich nicht nur in Janssens Darstellung von Menschen, sondern ebenso in seinen Zeichnungen und Drucken von Bäumen und Blumen. Die Dynamiken der Körper sind auch hier in sich verflochten, mit unbestimmten Richtungen, verdreht und um sich selbst kreisend.
[Laokoon/Die Bäume der Annette] So werden Bildinhalte dynamisch aufgeladen, ohne sich entladen zu können. Unsere Blicke wandern im Bild und werden zugleich in ihm gehalten. Die derart zur Schau gestellte Zeichenlust und der daraus resultierende zeichnerischer Überschuss spiegelt sich in der Schaulust der Betrachtenden. Wenn sie seiner Feder durch die Bilder folgen verstehen unsere Augen Janssen, der über sich sagt: „Und außerdem: Ich schöpfe ja auch nicht. Ich laufe über.“20

[Bobethanien] Janssen behauptet, er habe keine Motive, sondern Themen. Die Natur dient ihm als Ausgangspunkt, sein Bestreben liegt aber immer auch darin, eine mimetische Darstellung zu überwinden. Wir sehen hier nicht nur Bäume, wir sehen auch Janssen. Ewald Gäßler schreibt in seinem Aufsatz zu „Horst Janssen und die Kunst der Metamorphose“: „Durch die Entbindung der grafischen Zeichen von ihrer Aufgabe, etwas zu bezeichnen, werden sie frei für den künstlerischen Ausdruck.“21
Damit könnte er ebenso gut Werke des Manierismus gemeint haben: Die Befreiung der Linie von der naturalistischen Form geht bei beiden einher mit Metamorphosen und grotesken Figurenentwürfen.

Virtuos bis zur Groteske

Der Duden definiert „Groteske“ wie folgt: „1. fantastisch gestaltete Darstellung von Tier- und Pflanzenmotiven in der Ornamentik der Renaissance und der Antike, und 2. Darstellung einer verzerrten Wirklichkeit, die auf paradox erscheinende Weise Grauenvolles, Missgestaltetes mit komischen Zügen verbindet“.
[Floris – Bolten] Grotesken sind keine spezifischen Ausprägungen des Manierismus. Aber als hybride Darstellungen, die gegen geläufige Ordnungen und Gestaltungsprinzipien verstoßen und Motive miteinander verflechten22, stehen sie in einer engen inhaltlichen Beziehung mit diesem. Nach Michail Bachtin ist der groteske Körper keine individuelle Einheit, sondern nur ein Durchgangsstadium in einem dauernden Prozess der Verwandlung und Erneuerung23, mithin verkörpert er Veränderung. Zum Grotesken gehört das Masken- und Marionettenhafte ebenso wie das lebendig werdende Mechanische. In der Vermischung heterogener Elemente aus Pflanzlichem, Tierischem und Anthropomorphem tritt eine Infragestellung jeglichen Wirklichkeitsbezuges zutage24: Das Groteske zeigt eine entfremdete Welt.25

[Raffael] In ihrem Text „Maniera and the Grotesque“ identifiziert Maria Fabricius Hansen die Zeit des Manierismus im 16. Jahrhundert als eine Hochzeit der Groteske. Wie Bachtin sieht sie im Grotesken eine Metapher für den Prozess von Entstehung, Schöpfung und Zerfall. Grotesken dienen als Platzhalter für reale Zustände und Subjekte und ersetzen diese durch Mischwesen und Figurationen der Künstlichkeit und ironischen Distanzierung. Im ihnen spiegelt sich ein Bewusstsein dafür, dass die Wahrheit mehrdeutig und die Wahrnehmung relativ ist, so entsteht ein fortwährendes Spiel zwischen den künstlichen Eigenschaften der Natur und den natürlichen Qualitäten der Kunst. Grotesken, so Hansen, seien in ihrem Bezug auf künstlerische Erfindung und ihrer Transzendenz der Grenzen des Naturalismus Manifestationen dieser entscheidenden Eigenschaften der manieristischen Kunst.26

[Janssen, Tod u Mädchen] Verfremdungen des Sichtbaren, hybride Formen und ironische oder mehrdeutige Perspektiven finden sich, wie bereits im Kontext der figura serpentinata gezeigt, auch in den Zeichnungen und Grafiken von Horst Janssen. Das mag daran liegen, dass die hybride Form, das Verschmelzen von Körpern und Wahrnehmungen, mit einer Grundhaltung Janssens einher geht.
[Metamorphose Janssen] Sie, Frau Moster-Hoos, bezeichnen in der Publikation Ich sehe mich in allem anderen die Metamorphose als ›große Klammer‹ in Janssens Leben und Werk.27 Christa Lichtenstern verweist dort auf den „pyhsiognomische Duktus seiner vermenschlichten Bäume, Falten, Wolken oder die Gestrüppnatur seiner ausgezehrten, kapriziös perfide gewundenen Leiber“, mithin darauf, dass die Motive dadurch, wie sie zeichnerisch umgesetzt wurden, eine Metamorphose und damit die Groteske gleichsam in sich tragen. Explizit wird dies in einigen der Selbstporträts: Janssen wird hier selbst zur Chimäre; grotesk ist nicht nur sein Gesichtsausdruck, sondern ebenso sind es die, im doppelten Sinne des Wortes, ‚überzeichneten‘ Formen.

Manieristische Aspekte in Janssens Kunst

Der Manierismus, und mit ihm die figura serpentinata als charakteristische Form, die Groteske und Horst Janssen scheinen eine gemeinsame Haltung zu teilen.
[Fiorentio/Janssen] Kompositorische Parallelen zwischen manieristischen Werken und denen Janssens liegen unter anderem darin, dass ihn ihnen bekannte Ordnung gestört erscheinen. Die Künstler nutzen die Verformung, um den Ausdruck ihrer Werke zu steigern, anstelle eines geometrischen tritt ein emotionalisierter Bildraum, der die Betrachtenden in die Bilder hineinzieht und in ihnen festhält.
[Pontormo/Janssen] Referenzen, die Natur ebenso wie kunsthistorische Vorbilder, sind jeweils notwendig, um über sie hinauszugehen und den Betrachtenden die Virtuosität des Künstlers zeigen zu können. Diese Haltung ist, ebenso wie die Hinterfragung der uns umgebenden Welt und gesellschaftlicher Normen, eine jeweils zeitgenössische. Horst Bredekamp schreibt entsprechend: „In seiner Witterung für alles Gefährdete konnte der Manierismus solcherart als Zeichen einer wagemutig diagnostischen Moderne gelten. Und wenn es ein Motiv gibt, das auf unsere Epoche gleichfalls zutreffen könnte, so ist es dieses Klima einer kulturell, militärisch und finanziell erkannten oder zumindest allgemein gefühlten Bedrohung.“28
[Verklärung und Tod] Der Manierismus thematisiert den Konflikt zwischen Formperfektion und Ausdrucksdrang und spiegelt die geistigen Spannungen einer von Reformationsbewegungen, Krisen und und politischem Machtwandel geprägten Zeit. Weniger ihre Themen, als vielmehr wie sie gemacht sind, bewusste Stilisierung, technische Brillanz und emotionale Spannung, macht manieristische Werke zu Zeugnissen des Übergangs. Das Wie ist auch bei Janssen zentral. Die aus der gestalterischen Perfektion und Virtuosität resultierenden Freiheiten müssen sich zwar, hier wie dort, den Vorwurf des Eskapismus gefallen lassen, stellen aber zugleich eine geschickte ästhetische Strategie dar, um Kritik ausüben und aktuelle Zustände hinterfragen zu können.29 Ich lasse noch einmal Bredekamp zu Wort kommen: „Indem der Manierismus die Grenzziehung von natürlich und künstlich, tot und lebendig sowie normativ und subversiv systematisch in frage gestellt hat, erscheint er als Spiegelbild unserer eigenen Zeit.“30 Und, möchte ich hinzufügen, in diesen Spannungsfeldern bewegen sich auch die Bildwelten Horst Janssens und generieren sich somit als höchst aktuelle. Die uns umgebende Ambiguitäten werden in ihnen ausgestellt und lassen vertraut scheinende Ordnungen instabil werden. Unter der Oberfläche des Gewohnten tritt das Absurde, Paradoxe und Fremde hervor. Insofern kann Janssens expressive Formensprache als eine zeitgenössische Transformation historischer Bildkonzepte begriffen werden.

Ich habe exemplarisch zu zeigen versucht, dass sich Elemente des Grotesken in Janssens Bildern ebenso finden lassen wie Formanalogien zur figura serpentinata. Eine systematische Erfassung dieser Zusammenhänge, die auch Einzelwerke detailliert in Bezug zueinander setzt, war in der Kürze der Zeit nicht zu leisten und steht noch aus.
Ebenso wäre in der weiteren Untersuchung zu klären, wie bei Janssen die Differenz des Bildlichen zum Wirklichen verhandelt wird und inwiefern es ihm gelingt, Bildinhalte auch durch deren Gestaltung psychologisch aufzuladen, respektive die Betrachtenden animiert, dies zu tun. Ich fände es wunderbar, dies im Austausch mit Ihnen und mit einem Blick auf Janssens Originale tun zu können.

1 Horst Janssen, der foliant. Eine exhibitionistische Dokumentation der Unfallgeschichte, Hamburg 1992 : 91, zu den „Drollereien“ für Heidrun Bobeth.

2 Ulrich Pfisterer (Hg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, Springer-Verlag GmbH 2011

3 Michael Thimann, „Ein Denkraum der Unbesonnenheit?“. In: Philipp/Tátrai/Westheider (Hg.). Sturz in die Welt – die Kunst des Manierismus in Europa, München 2008, 26-35 : 28, vgl. 26.

4 Thimann, 2008 : 31.

5 Ernst Robert Curtius. Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern1948.
Gustav René Hocke. Die Welt als Labyrinth, Hamburg 1957.

6 Horst Bredekamp, „Der Manierismus. Zur Problematik einer kunsthistorischen Erfindung“. In: Wolfgang Braungart (Hg.). Manier und Manierismus, Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000, 109–129 : 127. (Zitat zu Hocke. Genauer sind hier die Begriffsgeschichte und ihre Umwertungen nachzulesen.)

7 Gustav René Hocke. Malerei der Gegenwart. Der Neo-Manierismus. Vom Surrealismus zur Meditation, Wiesbaden/München 1975, vgl. 310/312.

8https://www.monopol-magazin.de/interview-frank-zoellner-was-hat-uns-werner-tuebke-heute-zu-sagen-herr-zoellner

9 https://www.kunstausstellungen.de/ausstellung/2636-Horst-Janssen-Museum-Oldenburg/

10 Vgl. Emil Maurer. Manierismus. Figura serpentinata und andere Figurenideale. Studien. Essays. Berichte, NZZ Verlag, Zürich 2001, vgl. 25 und 42.

11 Vgl. https://www.projekte.kunstgeschichte.uni-muenchen.de/Paragone/glossar_serpentinata.html

12 Maurer, 2001 : ??.

13 Maurer, 2001 : 37.

14 Maurer, 2001 : 43.

15 Vgl. Maurer, 2001 : 48.

16 Juliane Wenzl. Bewegung, Raum, Zeit und Erzählung in David Hockneys Joiner Photographs, Heidelberg 2022 : 208 und 2010.

17 John K. G. Shearman. Manierismus – das Künstliche in der Kunst. Weinheim-Beltz, Athenäum 1994 (Neuausg., Org. 1965) : 99.

18 Vgl. Maurer, 2001 : 48.

19 Vgl. Thomas Röske. »UNGLAUBLICH UNSERIÖS UND BIZARR«. Druckgraphik des Manierismus, gesammelt von Georg Baselitz. Originalveröffentlichung in: Georg Baselitz – Das große Pathos. Gemälde, Zeichnungen, Graphik, Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1999, 25–33 : 30, (Interview Grasskamp in: Madrid 1984 : 12).

20 Janssen, 1992 : 91.

21 Ewald Gäßler, „Horst Janssen und die Kunst der Metamorphose“. In: Ich sehe mich in allem anderen. Metamorphosen im Werk Horst Janssens. Horst Janssen Mseum Oldenburg, 2000, Bd. 1 : 40.

22 Vgl. Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Halle und Leipzig 1735, Bd. 11, Sp. 1083.

23 Michail Bachtin, „Die groteske Körperkonzeption und ihre Quellen“. In: Ders.: Rabelais und seine Welt: Volkskultur und Gegenkultur. Frankfurt 1995 : 345 ff.

24 Vgl. Gregor Wedekind, „Die Wirklichkeit des Grotesken: Paul Klee, Hugo Ball und Carl Einstein“. In: Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit, hrsg. von Pamela Kort, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, München 2003 : 39.

25 Vgl. Ulrich Röthke, Die seltsamen Gärten der Frau von Z. – Wahnsinn und Groteske bei Hans Prinzhorn, Adolf Hölzel und Paul Klee, www.kunstgeschichte-ejournal.net/ (Kayser: Das Groteske. Eine Wesensbestimmung, 1957).

26 Maria Fabricius Hansen. Maniera and the Grotesque. In: Wolfgang Braungart (Hg.), Manier und Manierismus. Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 : 259. „As a rhetorical figure, the grotesque can be understood as a figuration of contrapposto and irony. It is antithetical: Consisting of ajuxtaposition of incompatibilities, it turns and inverts an original meaning and is, by nature, ‘paradoxical.’ The grotesques reflect a consciousness of the ambiguity of truth and of the relativism of perception, which is, fundamentally, rhetorical. This distance and irony are basic qualities of the modern concept of art. It is manifest in the thematicization of art’s relation to nature and of reality versus illusion. This ironical dimension – the distance of humour as well as the alienation incorporated into the work by the artist himself – is typical of Mannerism.“

27 Ich sehe mich in allem anderen. Metamorphosen im Werk Horst Janssens. Horst Janssen Museum Oldenburg, 2000 (Bd. 1)

28 Bredekamp, Horst, „Bilderwissen im Zeitalter des Neomanierismus“. In: Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.). Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren. Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung. Bielefeld 2015, 13–29 : 19. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/2835.

29 Vgl. Horst Bredekamp, „Der Manierismus. Zur Problematik einer kunsthistorischen Erfindung“. In: Wolfgang Braungart (Hg.). Manier und Manierismus, Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000, S. 109–129: 123.

30 Bredekamp, 2015 : 26.